Rückblick: BTV Experten-Dialog

Die Stimmung in Europa ist angeschlagen. Man befürchtet, im Wachstum durch die USA und China abgehängt zu werden. Jedoch hat Europa laut Achim Wambach grundsätzlich keine großen konjunkturellen Schwierigkeiten. Es sind strukturelle Probleme, die den wirtschaftlichen Zugpferden in Europa zu schaffen machen. Deutschlands Wirtschaft weist etwa eine große Abhängigkeit vom verarbeitenden Gewerbe auf. Dementsprechend ist die zuverlässige und günstige Energieversorgung ein wichtiger Baustein für den wirtschaftlichen Aufschwung der Volkswirtschaft. Schwächen des Standorts Europa ergeben sich allerdings nicht nur aus den hohen Energiekosten, sondern auch aus hohen Unternehmenssteuern und überschießender Bürokratie.

Der ehemalige EZB-Chef Draghi zählt in seinem jüngsten Bericht zur Stärkung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit Themenfelder auf, in welche Richtungen eine potenzielle Stärkung der europäischen Wirtschaft gedacht werden könnte. Hierfür sollen die Abhängigkeiten vom Ausland, zum Beispiel in der Energieversorgung, stärker reduziert, Lieferketten breiter aufgestellt und Innovationen gezielt vorangetrieben werden. Die Aufnahme von gemeinsamen Schulden in der Europäischen Union spricht Draghi ebenfalls an, wovon europäische Innovationen profitieren sollen.  Achim Wambach gab allerdings zu bedenken, dass europäische Schulden am Kapitalmarkt aktuell nicht unbedingt die günstigste Finanzierungsform seien. Er sieht eine nationale Finanzierung als vorteilhaft sowie die Nutzung bereits bestehender EU-Gemeinschaftsvehikel für die Finanzierung von grenzüberschreitenden Infrastrukturprojekten als bessere Lösung.

Trotz der aktuellen Probleme gibt es auch entscheidende positive Merkmale, die man in der Diskussion um die europäische Wirtschaft herausstreichen sollte. Dazu zählt etwa die Hochschulbildung: Es gibt eine sehr starke Kooperation zwischen Unternehmen und Universitäten. Europäische Universitäten bieten ausgezeichnete Forschungsprogramme für Startups und Studierende. Unternehmen profitieren wiederum von den exzellent ausgebildeten Fachkräften.

Auch Staaten haben die Notwendigkeit der Innovation deutlich erkannt und somit gibt es zahlreiche staatlich geförderte Investitionen. Die Europäische Union fördert aktiv Forschungsinstitutionen und Start-ups durch verschiedene Strukturen, um Innovationen in Europa zu stärken. Im Ergebnis ist Europa in vielen Branchen im Spitzenfeld dabei – abgesehen vom IT-Sektor.

Achim Wambach sieht die Dekarbonisierung in Europa erfolgreich voranschreiten. Die EU konnte bisher zahlreiche Patente anmelden, um nachhaltige Energieformen weiterzuentwickeln, jedoch mangelt es laut Wambach an der Umsetzung, die verstärkt im Ausland stattfindet.

Den EU-Emissionshandel beurteilt Wambach ebenfalls als erfolgreiches Instrument, um Emissionen zurückzudrängen und es sei obendrein günstiger als emissionsarme Unternehmen zu subventionieren, so der Präsident des ZEW.

Trotz der zahlreichen Förderungen fehlt den jungen Unternehmen weitere, über ihre Start-up-Phase hinausgehende Unterstützung. Gerade im Bereich der Scale-up-Finanzierung, also jener Phase, in der eine Innovation in Richtung des breiten Marktes gebracht werden soll, fehlt es aufgrund der allgemeinhin in Europa geringeren Risikoneigung an finanziellen Mitteln.

Die neuen, aufstrebenden Technologien rund um die Künstliche Intelligenz sind geprägt durch sprunghafte Veränderungen, Europa ist dagegen bekannt für Stabilität und Berechenbarkeit in der Gesetzgebung sowie für inkrementelles Wachstum. Außerdem ist die Judikatur oft auf den Schutz der Konsument*innen ausgelegt, wie zum Beispiel die Datenschutzgrundverordnung, die Verbraucher*innen im europäischen Raum schützen sollte. Dies macht wiederum den Unternehmern zu schaffen, sie fühlen sich oft mit der überbordenden Regulierung überfordert und sind teilweise frustriert. Die strenge europäische Regulatorik ist damit der Grund, warum sich weniger KI-spezialisierte Unternehmen in Europa ansiedeln.

Die starken Kursanstiege der Tech-Unternehmen, die sich auf AI spezialisiert haben, sind keinesfalls mit den Marktentwicklungen während des Internetbooms in den 2000er Jahren zu vergleichen. Während der sogenannten Dotcom-Bubble kam es in den 2000ern ebenfalls zu einem Tech-Hype. Allerdings stiegen zu Beginn des Jahrtausends auch die Aktienkurse von jungen, kleinkapitalisierten Firmen an, die weder ein solides Geschäftsmodell aufwiesen noch profitabel wirtschafteten. Genau hier liegt der Unterschied zum KI-Boom von heute: Im aktuellen Umfeld erwirtschaften spezialisierte IT-Firmen hohe Umsätze sowie Gewinne und weisen außerdem hohe Margen auf.

Obwohl die Angst vor der Wegrationalisierung von Arbeitsplätzen durch die Künstliche Intelligenz groß ist, bietet die Technologie viele Chancen. Am Arbeitsmarkt kann man mit einer sogenannten Job-Rotation rechnen, denn durch die KI werden neue Arbeitsplätze geschaffen, zugleich fallen andere Tätigkeiten weg. Durch die Künstliche Intelligenz werden Produktivitätszuwächse erwartet, da man stark repetitive Arbeitsabläufe automatisieren kann. Um die KI zu modellieren, weiterzuentwickeln und zu kontrollieren, bedarf es jedoch weiterhin top ausgebildeter Fachkräfte.